Herrschaftssicherung durch Konsensorientierung: Die Institutionalisierung von Kritik in China von der Antike bis in die frühe Kaiserzeit

Aus Macht und Herrschaft
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16 - TP Schwermann


Sinologie

Das Teilprojekt, das sich mit der Geschichte der Remonstration (jiàn 諫, jiànyì 諫議) im antiken China befasst, will prüfen, ob eine zunehmende Machtverdichtung bei Hofe und eine entsprechend große Konkurrenz innerhalb der Elite die Entwicklung eines spezifischen chinesischen Verständnisses von Macht und Herrschaft mit beeinflusst hat. Es will ferner untersuchen, inwieweit die Institutionalisierung von Kritik in Form von Remonstrationen aus Sicht der Herrschenden eine Herrschaftstechnik war. In direktem Zusammenhang und in enger Wechselwirkung mit diesem Komplex steht schließlich die Frage nach der Entwicklung von Herrscherkritik im Untersuchungszeitraum, ihren Ursprüngen, ihren Formen und ihrer Konzeption sowie ihrer Zielsetzung aus Sicht der Kritiker.

 

Abstract

Im Hinblick auf die Rolle der Eliten sowie die Genese und Morphologie von Institutionalität im alten China ist das Spannungsfeld der konkurrierenden Legitimitätsansprüche von Meritokratie und Dynastizität von entscheidender Bedeutung. Die politische Kultur Chinas läuft hier nämlich grundsätzlich zweigleisig: Zum einen kennt sie das Prinzip der Dynastizität in Form des „chinesischen Monarchismus“ (Liu 2000), zum anderen das Prinzip der Meritokratie in Form des Amtsethos der Beamtenliteraten (Chan 2013; Elman 2013; Pines 2013b; Wang 2013; Yu 1987). Diese beiden Pole weisen eine Unschärferelation der Ähnlichkeit im Sinne Kimmichs (Bhatta/Kimmich 2015) mit jenem Komplex auf, der in der europäischen Mediävistik als Idoneität und Genealogie bezeichnet wird (Andenna/Melville/Hering 2015). Sie meinen den Widerspruch, aber auch das Zusammenspiel zwischen den Ansprüchen auf Ausübung von Herrschaft aufgrund von Abstammung und auf Umverteilung von Macht aufgrund von ethischer, persönlicher und fachlicher Kompetenz. Durchaus im Gegensatz zum Klischee von der „Orientalischen Despotie“ (Wittfogel 1957) waren also neben Herrscherkritik auch Thronverzicht, Herrscherabsetzung und Dynastiewechsel sowie entsprechende Debatten darüber in Chinas Antike (1200 v. Chr – 220 n. Chr.) und Mittelalter (220–960) integraler Bestandteil der Herrschaftspraxis. Entsprechend bleibt es grundlegendes Anliegen, Macht und Herrschaft im alten China unter Rekurs auf institutionellen Widerstand bzw. institutionelle Einhegung der Macht des Monarchen in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne schließt die zweite Förderphase des TP 16 nahtlos an die erste an. Während aber in der ersten Förderphase die Remonstration im Mittelpunkt stand, die gleichsam ein institutionelles Scharnier zwischen Meritokratie und Dynastizität bildete, indem sie zwischen dem Anspruch auf Herrschaft der Besten und dem Herrschaftsanspruch einer Familie vermittelte, soll es nun um die prinzipielle Frage gehen, wie sich diese beiden Ansprüche, nämlich – im Hinblick auf die konkreten historischen Akteure – die Forderungen des Herrscherhauses und der Führungsbeamten, langfristig institutionell miteinander vereinbaren ließen. Die Gruppe der Führungsbeamten, die in der zweiten Förderphase im Mittelpunkt stehen soll, bildete eine Machtelite, die sich auf die Ressource der persönlichen und fachlichen Eignung stützte, um ihren Anspruch auf Mitwirkung bei der Regierung und insbesondere Entscheidungsfindung durchzusetzen. Diese Elite kann im Sinne des von Michael Young (1915–2002) in seiner weithin missverstandenen Polemik ‚The Rise of the Meritocracy‘ (1958/2017) geprägten Begriffes als Meritokratie bezeichnet werden. Denn sie berief sich in ihrem Anspruch auf Partizipation nicht nur auf die Selektionskriterien von intellektueller Kapazität und administrativer Leistung, sondern bildete im Laufe der Zeit eine an monarchischer Herrschaft beteiligte Klasse, deren Mitglieder ihre Privilegien über Generationen hinweg weitervererben konnten und deren ursprüngliche Legitimationsgrundlage – Auswahl aufgrund von persönlicher Leistung – dabei durchaus in den Hintergrund trat. Sie konstituierte sich auf Grundlage der genannten Potentiale, aber verfestigte sich im Rahmen von Verdienstrangsystemen zu einer Klasse, deren Grenzen mittelfristig immer mehr an Durchlässigkeit verloren. Im Falle einer Usurpation des Kaiserthrons ließ ein Segment dieser Elite die Maske fallen, griff nach der Herrschaftsspitze und installierte einen ihrer Vertreter als neuen Dynasten, womit das Spannungsfeld von Meritokratie und Dynastizität umrissen ist, das im Mittelpunkt des TP 16 stehen soll. Dieser Umschlag des einen Legitimationsmodus in den anderen findet in Max Webers (1864–1920) einflussreichen Ausführungen zum „Literatenstand“ im vormodernen China noch keine Berücksichtigung (Weber 1915/1991, 111–135). Zwar betont Weber den Gegensatz zwischen dynastischem Monarchen und meritokratisch legitimierten Amtsträgern, wobei er auch gewisse dynastische Tendenzen innerhalb dieser Schicht berücksichtigt. Da er den spezifischen Charakter der Usurpation jedoch verkennt, charakterisiert er den ersten, schulbildenden Usurpator in dieser Tradition, Wang Mang王莽(reg. 9–23 n. Chr.), ganz unzutreffend als Militärführer, der gegen den Literatenstand agiert und auf diese Weise keinen Präzedenzfall geschaffen habe. Hier bietet Michael Youngs Ansatz neue Deutungsoptionen. Der damit umrissene Interessenkonflikt zwischen Führungsbeamten und Dynasten steht in China am Beginn allen herrschaftstheoretischen Denkens und beeinflusst dasselbe bis in die Moderne. Bereits in der Zeit der Streitenden Reiche (5. Jh. – 221 v. Chr.) entstand – wohl im Zusammenhang mit der Projektion meritokratischer Legitimationsstrategien – die Theorie, dass der Monarch zugunsten des Tüchtigsten im Volke abdanken solle (Graham 1991, Pines 2005, Yang 2005, Xu 2014, Allan 2015). Zwar führten diese Überlegungen nie zur Einrichtung einer Wahlmonarchie oder eines Adoptivkaisertums, aber die Idee blieb so einflussreich, dass man sie im Ausgang der Antike und im Mittelalter, z. B. in der Zeit der Südlichen Dynastien (420–589), zur Legitimation von Usurpationen und Dynastiewechseln heranzog. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die in Kapitel 3.4 (Planung) weiter zu erläuternde Einteilung in zwei inhaltliche Schwerpunkte, die eng miteinander verzahnt sind: 1. Das Zusammenwirken zwischen dynastischen und meritokratischen Herrschaftsansprüchen in der frühen Kaiserzeit bis zur ersten einschlägig dokumentierten Usurpation des Wang Mang, 2. Die Legitimation von Usurpationen in Antike und Mittelalter seit Wang Mang unter Berufung auf die skizzierte Debatte.

Ergebnisse - was wurde erreicht?

a) Kenntnisstand und Ausgangsfragestellung bei der letzten Antragstellung

Im TP 16 wurden antike chinesische Konfigurationen von Macht und Herrschaft in dreierlei Hinsicht untersucht, nämlich begriffsgeschichtlich im Hinblick auf altchinesische Konzepte von Macht und Herrschaft, ideen- und literaturgeschichtlich im Hinblick auf Konzeptionen und Erzählungen von Herrscherkritik und institutionsgeschichtlich im Hinblick auf die Institutionalisierung von Herrscherkritik in Form von Remonstrationen, d. h. in der Regel schriftlichen Einsprüchen gegen herrscherliche Entscheidungen und die Amts- und Lebensführung von Monarchen. Entsprechend lauteten die Ausgangsfragen, ob (1) eine zunehmende Machtverdichtung bei Hofe und eine entsprechend hohe Konkurrenzspannung innerhalb der Elite die Entwicklung eines spezifischen chinesischen Verständnisses von Macht und Herrschaft befördert hat, (2) welche Formen und Zielsetzungen von Herrscherkritik es gab und (3) inwieweit deren Institutionalisierung in Form von Remonstrationen aus Sicht der Herrschenden auch eine Herrschaftstechnik bildete. Zum Zeitpunkt der Antragstellung stand die sinologische Forschung in allen drei Bereichen am Anfang: Weder waren die Wortfelder von Macht und Herrschaft systematisch analysiert worden, noch gab es eine umfassende Auseinandersetzung mit Konzepten und Narrativen der Herrscherkritik oder gar eine Studie zur Institutionalität des frühen Kaiserreichs am Beispiel der Remonstration.

b) Ergebnisse sowie angewandte und ggf. neu entwickelte Methoden

Ein essentieller Bestandteil des TP 16 war – neben der institutionsgeschichtlichen und narratologischen Analyse von altchinesischen Quellen zur Herrscherkritik – die Erforschung der Wortfelder Macht und Herrschaft. Um die antiken chinesischen Begriffe von Macht und Herrschaft verstehen und insbesondere in ihrer Differenz bestimmen zu können, war eine genaue Ermittlung der verwendeten Terminologie unabdingbar. Diese musste zudem in Hinblick auf ihre historisch-semantische Entwicklung analysiert werden. Zu diesem Zweck wurde mit dem Aufbau einer Datenbank begonnen, in der diese Terminologie – in insgesamt elf Sinnbezirke untergliedert – eruiert wurde: Neben zentralen Termini für ‚Macht‘ und ‚Herrschaft‘ wurden dabei nicht nur die Folgen von Herrschaftsausübung (‚Dienen und gehorchen‘) oder Reaktionen auf sie (‚Kritik‘) berücksichtigt, sondern auch ihre institutionelle Umsetzung (‚Konkrete Herrschaftsmittel‘, ‚Herrschaftsgebiete‘, ‚Herrschaftseliten‘, ‚Herrscher‘). Mit über eintausend Belegstellen, die sämtlich neu oder sogar erstmals ins Deutsche übertragen wurden, bietet die Datenbank einen umfassenden Überblick über teilweise stark divergente Macht- und Herrschaftsbegriffe im antiken China. Zudem gehen ihre Definitionen von Kernbegriffen der Wortfelder Macht und Herrschaft auf die historische Semantik der entsprechenden Termini ein und entwickeln Thesen zu ihrem Bedeutungswandel. Inzwischen ist diese Datenbank, die ein Novum innerhalb der sinologischen Forschung darstellt, auch online zugänglich und durchsuchbar gemacht worden – zunächst nur innerhalb des SFB.

Der hierin erhobene Befund zeigt, dass die beiden Wortfelder Macht und Herrschaft wie auch der Sinnbezirk Herrscherkritik im Klassischen Chinesisch terminologisch und konzeptuell sehr viel stärker ausdifferenziert gewesen sind als in anderen Sprachen – zum Beispiel im Vergleich zum Klassischen Latein und Mittellateinischen im antiken Rom und im europäischen Mittelalter. Die vorläufige Schlussfolgerung lautet, dass die damit einhergehende inflationäre Entwicklung von Macht- und Herrschaftsterminologie sowie von Ausdrücken für Herrscherkritik mit dem hohen Grad der Institutionalisierung der letzteren und der besonderen Stellung der Herrschaftstheorie im antiken Schrifttum zusammenhängt. Die beiden letzteren Phänomene wiederum stehen offenkundig im Zusammenhang mit einer „Explosion der Menschenregierungskunst“ im antiken China, wie sie Michel Foucault auch für die europäische Renaissance postulierte. Die Vorstellung von Herrschaft als harmonisierender Ordnung der menschlichen Gemeinschaft und der divergierenden Interessen ihrer Mitglieder war stark ausgeprägt. Macht wurde nicht nur als Möglichkeit konzeptualisiert, die eigenen Ziele ohne Rücksicht auf äußere Widerstände durchzusetzen, sondern auch in einem eher strukturellen Sinne als Einfluss verstanden, der aus der angemessenen Abwägung und Nutzung der äußeren, als fest gesetzt begriffenen Umstände erwachse. Diese Ergebnisse wurden auch im Rahmen eines interdisziplinären Austausches über die altchinesische Theoriebildung zu Macht und Herrschaft auf dem Workshop ‚Making Qin Great Again: New Perspectives on the Shang Jun Shu‘, einer internationalen Tagung zu einem der Hauptwerke der altchinesischen Macht- und Herrschaftstheorie am 16. und 17. November 2018 in Bonn, bestätigt.

Nach Sichtung der relevanten vor- und frühkaiserzeitlichen Quellen im Teilprojekt wurde deutlich, dass das antike Remonstrationswesen eine informelle Institution bildete, deren Regeln nur in Ansätzen schriftlich fixiert wurden. Entsprechend handelt es sich bei den meisten Quellen zur Geschichte der Remonstration – abgesehen von wenigen, vor allem inschriftlich dokumentierten Ausnahmen – um Narrative, die dem Typus des exemplarischen Erzählens (Jörn Rüsen) zuzuordnen sind. Entsprechend stark ist in der Dissertation von Felix Bohlen zum Thema ‚Remonstration und Herrscherkritik im ‚Guoyu‘國語(Reden aus den Ländern) aus erzähltheoretischer Perspektive‘ die narratologische Analyse von kurzen Erzählungen von Fällen institutionalisierter Herrscherkritik in den Vordergrund getreten. Es zeigt sich, dass sowohl die Remonstrationen selbst als auch die solche enthaltenden Remonstrationsanekdoten eine besondere Terminologie in Anschlag bringen, wiederkehrende Themen behandeln und nach bestimmten Strukturprinzipien aufgebaut sind, wie etwa dem Prinzip, den Monarchen trotz Remonstrationsverbot herauszufordern, um den Anspruch der Beamtenschaft auf Partizipation zumindest symbolisch durchzusetzen. Wir erfahren aus diesen Quellen also weniger, was tatsächlich geschehen ist, als vielmehr, was für die Autoren denkbar war (Gerd Althoff). Zudem konnte anhand strukturalistisch-narratologischer Theorien und Methoden (insbesondere Vladimir Propp 1972, Juri Lotman 1972, Gérard Genette 32010) nachgewiesen werden, dass die Narrative trotz facettenreicher Ausgestaltung an der Oberfläche (Diegese) in ihrer Tiefenstruktur nach einem bestimmten rekursiven Erzählmuster ablaufen: Herrscherfiguren, die den Rat aufrichtiger Remonstranten ausschlagen, sind demnach per se zum Scheitern und Untergang verurteilt. Dieses wiederkehrende Muster ist ein literarisches Mittel, um die Kernbotschaft der Relevanz von Rat und Ratgebern für die intendierten Rezipienten – textexterne Herrschaftsträger – zu verdeutlichen und das Herrscherhandeln im Sinne der Sendergruppe, der zeitgenössischen Ratgeberelite, zu beeinflussen. Dies belegt die hochgradige Artifizialität solcher Anekdoten und untermauert die These, dass das ‚Guoyu‘ nicht wie bisher als tatsachenorientierte Geschichtsschreibung verstanden werden darf, sondern als ein erzieherisch-mahnender Fürstenspiegel angesehen werden muss.

Entsprechend kann auch die Historiographie der frühen chinesischen Kaiserzeit als Sammlung von Präzedenzfällen aufgefasst werden. Ihr Zweck bestand darin, zentrale Institutionen festzuschreiben, welche den dynastischen Herrschaftsverband über bestimmte interne Ordnungsprinzipien orientierten. Anders formuliert, die frühkaiserzeitliche Historiographie kann als Institutionsgeschichtsschreibung bezeichnet werden, sofern man Institutionalität in der Tradition Arnold Gehlens (1904–1976) und seines Schülers Karl-Siegbert Rehberg als durch Wiederholung und Internalisierung verfestigtes kulturelles Handeln definiert, das bestimmten Regeln folgt und zugleich solche setzt. Die Dissertation von Paul Fahr zum Thema ‚Remonstration als Institution – Ein Beitrag zum Herrschaftsverständnis im frühen chinesischen Kaiserreich‘ nimmt den hier gewonnenen Begriff des Präzedenzfalles sowie Einsichten bezüglich des altchinesischen Wortfeldes der Institutionalität auf und beleuchtet das Verhältnis von Remonstrationen und institutioneller Ordnung. Argumentiert wird, dass erstens Remonstrationen jener Epoche, so wie sie in die offizielle Historiographie inseriert sind, in der Regel auf Präzedenzfälle und Institutionenbegriffe rekurrieren, um ihren Adressaten, zumeist den Kaiser, auf die institutionelle Ordnung seiner Dynastie zu verpflichten, zweitens die Institution der Remonstration mittels historiographisch verarbeiteter Präzedenzfälle im dynastischen Ordnungsgefüge verankert wurde sowie drittens vom Monarchen erwartet wurde, dass er die entsprechenden Institutionen hinreichend internalisierte. Insbesondere für den letzten Punkt gibt die moderne soziologische Institutionentheorie (vgl. Berger/Luckmann 1966) wichtige Hinweise. Dies wird durch die Analyse der besagten Geschichtswerke erhärtet. Sie zeigt z. B., dass ein zentrales Kapitel aus den ‚Dokumenten der Han‘ (‚Hanshu‘漢書) nicht – wie bisher üblich – als Biographie eines bekannten Beamten und Gelehrten aufzufassen ist, sondern als eine Form der Institutionsgeschichtsschreibung, welche die Institution der Remonstration exemplarisch veranschaulicht, zugleich jedoch auch kritisch einordnet und von anderen Formen der Herrscherkritik abgrenzt. Hieraus folgt der den bisherigen sinologischen Forschungsstand in Frage stellende Schluss, dass die sogenannten ‚Aneinandergereihten Überlieferungen‘ (liezhuan列傳bzw. zhuan) des ‚Shiji‘史記(Aufzeichnungen der Schreiber) und des ‚Hanshu‘ keine Lebensbeschreibungen im griechisch-römischen Sinne, sondern vielmehr exemplarische Institutionenbeschreibungen darstellen. Im Hinblick auf die Ausgangsfrage und im Lichte der beiden Forschungsarbeiten ist also festzuhalten, dass die Remonstration im frühen Kaiserreich zunächst einmal ein Mittel der Eliten bildete, den Monarchen auf die Anerkennung der Partizipation der letzteren zu verpflichten. Umgekehrt konnte freilich die Herrschaftsspitze insbesondere in späteren Perioden diese intendierte institutionelle Fesselung gegen die Interessen der Partizipationselite einsetzen, indem sie z. B. durch einen Aufruf zum Remonstrieren Opposition zunächst identifizierte und sodann ausschaltete, um so einen Austausch der Machtelite zu bewirken. Einen Überblick über die Geschichte der Remonstration als Institution bis ins chinesische Mittelalter bietet der vom Teilprojektleiter und Thomas Crone herausgegebene Band ‚The History of Remonstrance in China – From the Beginnings to the Medieval Period‘, an dem neben den Teilprojektmitarbeitern weitere sinologische Fachkollegen aus Deutschland und Frankreich beteiligt sind.

c) Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Arbeitsprogramms

In methodischer und inhaltlicher Hinsicht haben sich keine Probleme bei der Umsetzung des Arbeitsprogramms ergeben.

d) Bezüge zu und Kooperationen mit anderen Arbeiten im Sonderforschungsbereich

Wie oben bereits erwähnt, hat das TP 16 eine Datenbank zu den Wortfeldern Macht und Herrschaft zum Wiki-Projekt des SFB beigetragen (siehe TP INF). Sämtliche Belege – insgesamt über eintausend zum Teil den Umfang von größeren Textabschnitten erreichende Stellen mit Termini aus den Wortfeldern Macht und Herrschaft im Klassischen Chinesisch – wurden nicht nur semantisch analysiert und klassifiziert, sondern auch ins Deutsche übersetzt, um die Konzepte und ihre Verwendungszusammenhänge in die anderen Teilprojekte zu transferieren und für eine weitergehende Analyse aus transkultureller Perspektive aufzubereiten.

Im Hinblick auf die Verfassung des frühen chinesischen Kaiserreiches und den institutionellen Rahmen des antiken Remonstrationswesens entwickelte sich im Austausch insbesondere mit den mediävistischen Fachkollegen (TP 02 Becher/Dohmen) die Einsicht, dass sie der von Bernd Schneidmüller und Steffen Patzold beschriebenen Form konsensualer Herrschaft im europäischen Mittelalter strukturell vergleichbar sind. Im Untersuchungszeitraum existierte ein Konsensbegriff, der auf einer Unterscheidung zwischen schlechtem Konformismus und guter Harmonie, das heißt aus konstruktivem Dissens hervorgehendem Konsens, basierte. Konstruktiver Dissens wie auch institutionalisierte Herrscherkritik wurden in dieser Vorstellung der Beratungsphase vor einer herrscherlichen Entscheidung zugeordnet. Unter Berücksichtigung der transkulturellen Perspektive entwickelte das TP 16 daher ein Drei-Stufen-Modell des Entscheidens in konsensualen monarchischen Herrschaften, bestehend aus den Phasen der (1) Beratung, (2) Entscheidung und (3) Sanktionierung. Der mittelalterlichen Erfüllung der Konsenserwartung in der dritten Phase entspricht dabei im frühen chinesischen Kaiserreich der Gehorsam der Berater nach Verkündung einer kaiserlichen Entscheidung. In beiden Fällen geht der herrscherlichen Entscheidung und der Zustimmung der Großen idealiter ein Aushandlungsprozess voraus, der den Anspruch der letzteren auf Partizipation voraussetzt. Im Unterschied zu den mittelalterlichen Quellen berichtet die antike chinesische Tradition jedoch auch ausführlich über Interventionen von Beamten und Beratern im Vorfeld von kaiserlichen Entscheidungen. Gemeinsam ist beiden Korpora, dass sie die Existenz eines kompetitiven Unterbaues konsensualer Herrschaft belegen.

Die verschiedenen Konzepte und Formen von Herrscherkritik, die sich vor dem Hintergrund dieser Konkurrenzspannung unter den Ratgebern an antiken chinesischen Höfen entwickelten, wurden im Rahmen einer engen Kooperation mit den TP 10 Kellermann und TP 15 Plassmann interdisziplinär untersucht und mit Typen der Herrscherkritik an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrscherhöfen verglichen. Im Rahmen der gemeinsam mit den Kolleginnen Kellermann und Plassmann organisierten internationalen Spannungsfeldtagung ‚Kritik am Herrscher: Möglichkeiten, Chancen, Methoden‘ vom 12. bis 14. April 2018 wurden erstmals antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche europäische systematisch mit vormodernen orientalischen und ostasiatischen Formen der Herrscherkritik verglichen. Der gemeinsam mit den Kolleginnen Kellermann und Plassmann herausgegebene Tagungsband ‚Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods. Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften – Möglichkeiten, Chancen, Methoden‘ dokumentiert unter anderem, dass es in den Monarchien des europäischen Mittelalters keine klare terminologische und konzeptuelle Unterscheidung zwischen Ratschlag und Tadel oder zwischen „interner“ und „externer Kritik“ (Rahel Jaeggi 2014) gab, während Sprachen derjenigen vormodernen monarchischen Gesellschaften, in denen Herrscherkritik frühzeitig einen Institutionalisierungsprozess durchlaufen hat, entsprechende Wortfelder aufweisen, die terminologisch voll entwickelt und begrifflich ausdifferenziert sind. Da ostasiatische Herrscherkritiker aber nicht vor Angriffen auf Leib und Leben geschützt waren, tendierten sie wie ihre mittelalterlichen europäischen Pendants oft dazu, Monarchen sehr allgemein und indirekt anzugreifen, indem sie z. B. Fürstenspiegel beim Thron einreichten oder sich mythologischer Diskurse bedienten. Die Anfänge einer rechtlichen Absicherung von Herrscherkritik liegen im europäischen Hochmittelalter und münden in den Aufstieg von Parlamentarismus und gemischter Monarchie.

Schließlich gelang es im Rahmen einer Kooperation mit dem TP 07 Dahlmann zur Untersuchung der Autokratie in transkultureller Perspektive, Karl August Wittfogels wirkmächtige – und nicht nur in der populärwissenschaftlichen, sondern auch in der Fachliteratur immer noch Wirkung entfaltende – These von der Orientalischen Despotie (Wittfogel1957) zu revidieren. In einem Beitrag zum Konferenzband von Dittmar Dahlmann und Diana Ordubadi (edd.) (2019), konnte die zentrale Quelle zur Autokratie im antiken China, eine Throneingabe des Kanzlers Li Si李斯(um 280–208 v. Chr.), als Fälschung eines späteren Autors entlarvt werden, der den Qindas Streben nach Einrichtung einer Selbstherrschaft zuschreiben wollte und dabei ein Schreckbild einer Autokratie nach konfuzianischen Vorstellungen entwarf, das der Wirklichkeit wohl nicht entsprach.

e) Vergleiche mit Arbeiten außerhalb des Sonderforschungsbereichs

Da die Forschung zum Remonstrationswesen im antiken China außerhalb des SFB auf dem Stand zum Zeitpunkt der letzten Antragstellung stehengeblieben ist, gilt weiterhin das bereits im ersten Antrag Gesagte: Studien zur Herrscherkritik begnügen sich mit einer literaturgeschichtlichen Einordnung der Textgattung Remonstration, ohne deren institutionsgeschichtliche Bedeutung zu erkennen, geschweige denn zu untersuchen. Zudem fehlt allen diesen Arbeiten die transkulturelle Perspektive auf die Phänomene von Macht und Herrschaft, ohne welche z. B. die oben erwähnte Einsicht in den Zusammenhang von konsensualer Herrschaft und der Institutionalisierung von Herrscherkritik nicht hätte gewonnen werden können.

 

Primärquellen

Sekundärquellen - Bibliografie

 

Publikationslisten

Veröffentlichungen

  • Paul Fahr (2019), Den Kaiser herausfordern? Die Herrschaft Wang Mangs vor dem Hintergrund der Thronfolge der Westlichen Han, in: Tilmann Trausch (ed.), Norm, Normabweichung und Praxis des Herrschaftsübergangs in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 3), Göttingen, 263-290.
  • Ders./Linda Dohmen/Tilmann Trausch (2019), Regieren im Konsens? Vormoderne politische Entscheidungsprozesse in transkultureller Perspektive, in: Linda Dohmen/Tilmann Trausch (edd.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element vormoderner Entscheidungsfindung in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 9), Göttingen,11–56. [im Druck, s. Anlage]
  • Ders./Christian Schwermann (2019), ‚Konsensuale Herrschaft‘ im alten China: Eine begriffsgeschichtliche Annäherung, in: Linda Dohmen/Tilmann Trausch (edd.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element vormoderner Entscheidungsfindung in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 9), Göttingen,177–196. [im Druck, s. Anlage]
  • Christian Schwermann (2019a), Konfliktmanagement im antiken China. Der Han-Kaiser Wu (reg. 141–87 v. Chr.) im Urteil von Zeitgenossen und Nachwelt, in: Matthias Becher (ed.), Transkulturelle Annäherungen an Phänomene von Macht und Herrschaft. Spannungsfelder und Geschlechterdimensionen (Macht und Herrschaft 11), Göttingen, 33–59.
  • Ders. (2019b), Wie man „die Kontrolle in der Welt ganz für sich allein hat, ohne von jemand anderem kontrolliert zu werden“. Ein antikes chinesisches Plädoyer für die Errichtung einer Autokratie, in: Dittmar Dahlmann et al. (edd.), Die autokratische Herrschaft im Moskauer Reich in der ‚Zeit der Wirren' (Studien zu Macht und Herrschaft 2), Göttingen, 91–118.
  • Ders. (2019c), Schlechte Namen, Leserlenkung und Herrscherkritik in antiken chinesischen Texten, in: Matthias Becher et al. (edd.), Machterhalt und Herrschaftssicherung. Namen als Legitimationsinstrument in transkultureller Perspektive (Macht und Herrschaft 8), Göttingen,75–128.
  • Ders. (2017a), Anecdote Collections as Argumentative Texts: The Composition of the Shuoyuan, in: Paul van Els et al. (edd.), Between History and Philosophy: Anecdotes in Early China, Albany, 147–192.
  • Ders. (2017b), Historisches Denken im Shǐ jì, in: Stephan Conermann (ed.), Wozu Geschichte? Historisches Denken in vormodernen historiographischen Texten. Ein transkultureller Vergleich (Bonner Asienstudien 18), Berlin, 37–51.
  • Ders./Alheydis Plassmann/Karina Kellermann (edd.)(2019), Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods.Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften – Möglichkeiten, Chancen, Methoden (Macht und Herrschaft 6), Göttingen.
  • Ders./Alheydis Plassmann/Karina Kellermann (2019),Criticising the Ruler – Possibilities, Chances, and Methods. Introduction,in: Dies. (edd.), Criticising the Ruler in Pre-Modern Societies – Possibilities, Chances, and Methods.Kritik am Herrscher in vormodernen Gesellschaften – Möglichkeiten, Chancen, Methoden (Macht und Herrschaft 6), Göttingen,11–32.

Tagungsteilnahmen

 

Veranstaltungen (Kolloquien, ...)

  • Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung des SFB 1167: Prof. Dr. Christian Schwermann zum Thema „Konflikt-‚Management‘ am Kaiserhof der Westlichen Han: Die Debatte über die Militär- und Wirtschaftspolitik des Han Wudi (reg. 141–87 v. Chr.)“ (05.12.17)
  • Internationale Tagung: „Kritik am Herrscher – Möglichkeiten, Chancen, Methoden“ / „Criticizing the Ruler – Possibilities, Chances, Methods“ zu Spannungsfeld D des SFB 1167 (12.04.18–14.04.18)
  • Workshop: „Making Qin Great Again: New Perspectives on the Shang Jun Shu“ (16./17.11.18)

 

Projekt

Projektleitung


Prof. Dr. Christian Schwermann

Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Ostasienwissenschaften
Sektion Sprache und Literatur Chinas
Universitätsstraße 134, Raum 3.11
44780 Bochum

+49-(0)234-32-29253

christian.schwermann[at]rub.de

 

 

Projektmitarbeit


Felix Bohlen, M.A. (Wissenschaftlicher Mitarbeiter)

Sonderforschungsbereich 1167 "Macht und Herrschaft"
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Poppelsdorfer Allee 24
53115 Bonn

+49-(0)228-7354457

febohlen[at]uni-bonn.de

Paul Fahr, M.A. (Wissenschaftlicher Mitarbeiter)

Sonderforschungsbereich 1167 "Macht und Herrschaft"
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Poppelsdorfer Allee 24
53115 Bonn

+49-(0)228-7354457

 

Spannungsfelder assoziierte TP's

   

Aktuelle Forschung (Andere Projekte mit ähnlicher Forschung)

 

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